Der Fall Althusmann: Eine Einschätzung

Im Juli habe ich mich in einem kurzen Beitrag mit dem Fall des niedersächsischen Bildungsministers Bernd Althusmann befasst und angekündigt, mich nocheinmal näher damit zu befassen. Das möchte ich heute kurz tun.

Zur Erinnerung: Althusmann geriet durch ein von der ZEIT in Auftrag gegebenes Gutachten unter Verdacht, bei seiner mit „ausreichend“ bewerteten Dissertation an der Universität Potsdam massiv plagiiert zu haben. Die Vorgeschichte (mit Links zum Gutachten und den relevanten ZEIT-Artikeln) findet sich in meinem Beitrag vom Juli. Ende Juli setzte die Universität Potsdam eine Kommission ein, die die Vorwürfe prüfen soll und auf deren Urteil wir nun warten (die Themenseite auf Spiegel Online liefert einen guten Überblick über die Geschehnisse).

Ich kann natürlich nicht vorhersagen, wie die Potsdamer Kommission entscheiden wird, aber nachdem ich mich mit dem ZEIT-Gutachten ausführlich beschäftigt habe, kann ich immerhin eine  Einschätzung des Falles abgeben, von der ich denke, dass sie nicht völlig anders ausfallen wird.

Meine Einschätzung steht allerdings unter zwei Vorbehalten, die beide etwas mit der Qualität der Dokumentation zu tun haben.

Der erste Vorbehalt betrifft die Repräsentativität der untersuchten Anteile von Althusmanns Dissertation: Anders als bei VroniPlag üblich haben die ZEIT-Gutachter nur ausgewählte Kapitel der zu begutachtenden Arbeit überprüft; die nicht überprüften Kapiteln könnten natürlich zusätzliche Beweise enthalten, die zu einem anderen Urteil führen könnten.

Der zweite Vorbehalt betrifft die Untersuchungsmethode: Wenn VroniPlag eine Dissertation prüft, durchsuchen viele Augen Seite für Seite und Zeile für Zeile auf mögliche Plagiate, indem man Textfetzen bei Google sucht und die in den Literaturverweisen genannte Literatur heraussucht und durchgeht. Die ZEIT-Gutachter konzentrieren sich dagegen ausschließlich auf die zweite dieser beiden Methoden. So besteht die Gefahr, dass gerade solche Plagiate, bei denen die Quelle gar nicht angegeben wird, übersehen werden.

Aber wenn ich davon ausgehe, dass diese Vorbehalte nicht greifen und dass die ZEIT-Dokumentation repräsentativ und lückenlos ist, dann komme ich zu dem Schluss, dass Althusmanns Dissertation kein Plagiat darstellt.

Die Arbeit wirkt uninspiriert, stellenweise nachlässig gearbeitet und inhaltlich oberflächlich. Althusmann scheint sich — zumindest in den untersuchten Kapiteln — nur sehr begrenzt von den Ideen der Autor/innen lösen zu können, die er rezipiert hat. Er beschränkt sich weitgehend auf eine Synthese (manchmal sogar nur eine aneinanderreihende Wiedergabe) des bereits von anderen zum Thema gesagten. Die Note, die er für seine Dissertation bekommen hat — „rite“, also in etwa ein „ausreichend“ — bestätigen, dass auch seine Promotionsbetreuer seinerzeit zu diesem Schluss gekommen sind und keine umfangreiche gedankliche Eigenleistung feststellen konnten.

Aber Althusmanns Dissertation ist eben eine Nacherzählung der Gedanken anderer, sie ist nicht, wie die von VroniPlag dokumentierten Dissertationen, eine Collage aus den Texten anderer. Das soll nicht heißen, dass Althusmann sich nicht stellenweise auch der Formulierungen anderer bedient hat — die ZEIT-Gutachter tragen eine Vielzahl solcher Übernahmen zusammen. Diese betreffen allerdings mehrheitlich die Übernahme sehr kurzer Formulierungen — Teilsätze, zum Teil sogar nur zwei aufeinanderfolgende Wörter. Diese Art der Übernahmen lässt sich aber kaum vermeiden, denn innerhalb eines eng umrissenen Fachgebietes gibt es nicht beliebig viele Arten, einen Sachverhalt zu versprachlichen.

Übernahmen, die länger als ein Teilsatz sind, finden sich in den von den ZEIT-Gutachtern untersuchten Kapiteln nur selten, und in allen Fällen ist die Quelle mit einem „vgl.“ (für „vergleiche“) angegeben: dies betrifft eine Handvoll Abbildungen in Listenform, und jeweils ein Dutzend Sätze bzw. Absätze. Auch diese Übernahmen sind natürlich nicht ohne weiteres zu entschuldigen, aber ihr geringer Umfang deutet darauf hin, dass hier ohne Täuschungsabsicht gehandelt wurde — es dürfte sich ausnahmsweise tatsächlich einmal um die berühmten „handwerkliche Fehler“ handeln, die die bisher enttarnten Plagiator/innen allzugern für sich in Anspruch nehmen wollten.

In der überwiegenden Mehrzahl der von den ZEIT-Gutachtern als Plagiat kategorisierten Fällen handelt es sich aber nicht um direkte Übernahmen, sondern um Paraphrasen. Auch diese Paraphrasen sind inhaltlich und begrifflich häufig eng an die rezipierten Quellen angelehnt, aber sie sind in ihrer sprachlichen Formulierung eigenständig genug, um sich gerade noch auf der richtigen Seite des schmalen Grats zwischen Paraphrase und Plagiat zu bewegen.

Neben Plagiaten (also verschleierten und nicht gekennzeichneten Übernahmen von Texten) dokumentieren die ZEIT-Gutachter eine Vielzahl von Stellen, an denen Althusmann sich mit „fremden Federn“ schmückt — mit diesem Begriff bezeichnen Plagiatforscher die Übernahme von Literaturverweisen aus anderen Arbeiten — man nennt eine Reihe von Werken, die sich mit einer bestimmten Idee befassen, und tut so, als habe man diese Werke selbst gelesen, während man tatsächlich die ganze Reihe einfach aus der Fußnote eines anderen Autors kopiert.

Auch diese Technik ist fraglos ein Beispiel von wissenschaftlichem Fehlverhalten, aber sie kann aus meiner Sicht nur ergänzend in die Beurteilung einer Arbeit einfließen — schließlich kann man einem Autor nicht wirklich nachweisen, dass er die genannten Werke nicht doch selbst in der Hand hatte und sich so versichert hat, dass sie thematisch relevant sind und deshalb genannt werden müssen. Ich stimme den ZEIT-Gutachtern zu, dass die Vielzahl dieser Fälle „fremder Federn“ kein gutes Licht auf Althusmann wirft, aber in Abwesenheit von klaren Verstößen in nennenswertem Umfang können sie meiner Einschätzung nach nur als weiterer Beleg für Althusmanns wissenschaftliche Schwächen, nicht aber als Betrugsversuch gelten.

Zusammenfassend komme ich (vorbehaltlich der oben genannten Einschränkungen) zu dem Schluss, dass Althusmanns Arbeit keinen klaren Fall bewussten wissenschaftlichen Fehlverhaltens darstellt. Da man im Zweifel für den Angeklagten urteilen sollte, plädiere ich deshalb bezüglich des Plagiatvorwurfs auf Freispruch.

Allerdings muss Althusmanns Fall ein Anstoß für eine differenziertere Diskussion sein: Die von GuttenPlag und VroniPlag dokumentierten Fälle — von Guttenberg über Saß und Brinkmann bis zu Koch-Mehrin und Chatzimarkakis — waren derartig offensichtliche Fälle von bewusstem und dreistem Betrug, dass die Empörung über die kaltschnäuzige Weigerung der Betrüger/innen überwog (und weiterhin überwiegen muss), politische Konsequenzen aus ihrem Fehlverhalten zu ziehen.

In Althusmanns Fall besteht nach derzeitiger Faktenlage aus meiner Sicht keine Notwendigkeit, unmittelbare Konsequenzen zu ziehen. Dass er ein schlechter Wissenschaftler ist, disqualifiziert ihn nicht als Politiker. Wohl aber stellt sich die hier schon Vorgestern heiß diskutierte allgemeine Frage nach Qualitätsmaßstäben bei Promotionen — zum Beispiel muss man sich fragen, was die Bewertung „ausreichend“ bei einer Dissertation eigentlich heißen soll.

[Nachtrag (1. Dezember 2011): Die Universität Potsdam entlastet Althusmann in ihrem Abschlussbericht.]

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2 Kommentare on “Der Fall Althusmann: Eine Einschätzung”

  1. Plagiarism in a „family“ style
    How young ambitious capoes and soldiers from the Italian Institute of Technology (IIT) under supervision of a decrepit american don-godfather from Northwestern University are successfully completed their sequential plagiaristic enterprise: http://issuu.com/r_sklyar/docs/sklyarvsmussaivaldi

  2. […] von Stellen, bei denen der Autor sich inhaltlich kaum von der zitierten Literatur löst. Aber, so schrieb ich damals, die Dissertation ist eben eine Nacherzählung der Gedanken anderer, sie ist nicht, wie die von […]


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